“Ohne Heimat sein heißt leiden.” Fjodor Michailowitsch Dostojewskij
Gentrifizierung (engl. = Gentrification) ist in aller Munde. Selten, leider zu selten werden die psychologischen Folgen der Verdrängung der Bewohner beleuchtet. Durch steigende Mietpreise wächst der Druck auf die alteingesessenen Bewohner und schlussendlich ist die Verdrängung aus dem Stadtteil eine häufige Folge. Besonders für sensible Menschen kann das ernste Folgen haben. Wenn Du dich gerade fragst was Gentrification überhaupt bedeutet, dann kannst du dich hier in das Thema einlesen. Für alle anderen Leser folgen hier nun die 7 psychologischen Folgen von Gentrifizierung.
1) Entwurzelung
Wenn jemand unfreiwillig seine gewohnte Umgebung verlassen muss werden ihm seine Erinnerungen zerstört. Jahrelang hat man sich in gewohnter Umgebung zurechtgefunden. Jeder Ort in der Nähe hatte eine Bedeutung. Der Kindergarten um die Ecke, die Grundschule. der erste Kuss hinter der Efeu-bewachsenen Mauer. All diese Erinnerungen soll ich hinter mir lassen? Das fällt schwer.
2) Unruhe und Angst
Das Leben ist nicht leicht. Ständig gibt es etwas zutun und zu beachten. Wenn dann plötzlich die Miete erhöht wird erreicht das eine andere Dimension im Alltag. Im schlimmsten Fall wird die Existenz bedroht. Existenzangst ist eine der stärksten Ängste die ein Mensch fühlen kann. Klar sind Menschen anpassungsfähig und können einen Wohnortwechsel verkraften. Aber vor allem sensible Menschen können von ihren Ängsten übermannt werden. Im schlimmsten Falle droht schließlich eine Zwangsräumung der Wohnung. Das berüchtigte Kopfkino setzt ein und schon steht eine handfeste Krise ins Haus.
3) Sicherheitsverlust
Neben Essen, Trinken und Schlaf gehört eine sichere Unterkunft zu den wichtigsten Grundbedürfnissen von uns Menschen. Wenn diese Säule plötzlich aufgrund drohender Verdrängung anfängt zu wackeln fühlen wir uns unsicher. Viele Fragen drängen in den Kopf: Wo werde ich eine sichere Unterkunft finden? Werde ich genug Geld dafür haben? Was muss ich alles beachten? Wenn wir uns unsicher fühlen schalten wir in einen Stressmodus. Das ist völlig natürlich. Nur weiß eben jeder, dass Stress ungesund ist. Der Verlust des Sicherheitsgefühls wirkt sich also auf unsere Gesundheit aus.
4) Vertrauensverlust
Jahrelang mussten wir uns keine Gedanken über unsere Unterkunft machen. Wir verließen morgens das Haus oder die Wohnung und kamen abends zurück. Und plötzlich soll das vorbei sein? Das Vertrauen in die gewachsene Struktur ist zerstört. Vertrauen ist einer der wichtigsten Aspekte, um ein glückliches Leben zu führen. Keine ernsthafte Beziehung klappt ohne Vertrauen, kein Geschäftsdeal wird ohne Vertrauen eingefädelt. Bei der Verdrängung aus unserer Umgebung verlieren wir das Vertrauen in unsere Umwelt werden unsicher.
5) Unzufriedenheit
Besonders für Gewohnheitsmenschen ist der nicht eingeplante Start in eine neue Umgebung sehr schwierig. Man muss sich mit neuen Nachbarn herumschlagen, neue Wege zur Nahversorgung finden und den Alltag neu strukturieren. Da ist Unzufriedenheit schnell vorprogrammiert. Kein guter Start in die Zukunft. In der Regel befindet sich die neue Wohnung am Stadtrand oder zumindest in einem Stadtteil strukturell weniger gut versorgt ist. Die persönliche Lebensqualität ist gesunken und somit sinkt auch die Zufriedenheit. Außerdem kommt dann auch schnell Neid gegenüber den Besserverdienenden auf, die weiterhin in der Innenstadt wohnen bleiben können. Ein weiteres negatives Gefühl also auf das man auch gerne verzichtet.
6) Einsamkeit
Durch die abrupte räumliche Trennung von sonst so nahen Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn können sich manche Menschen sehr schnell einsam fühlen. Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnisse zählen nach physiologischen Bedürfnissen (vor allem Essen, Trinken, Schlafen und Sexualität) und dem Bedürfnis nach Sicherheit zu den wichtigsten Rahmenbedingungen für das Überleben. Besonders für Menschen denen es schwer fällt Kontakte zu knüpfen ist der Verlust von räumlicher Nähe zu geliebten Menschen fatal. Sicherlich heilt Zeit alle Wunden aber der Preis ist hoch. Einsamkeit wird in unserer Gesellschaft immer häufiger. Kaum jemand bringt jedoch Gentrifizierung damit in Zusammenhang.
7) Ohnmacht
Verdrängung geschieht durch äußeren Druck. Man hat plötzlich keinen Einfluss mehr auf sein Leben. Man fühlt sich ohnmächtig und allein gelassen. Wenn die Miete erhöht wird bleibt einem nichts anderes übrig als mehr Geld aufzutreiben, zu sparen oder die Wohnung zu verlassen. Dieser enge Entscheidungsspielraum bedrängt den Alltag und führt zu einem Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit. Selbst ein Weg vor Gericht ist riskant und im Zweifelsfall bleibt man auf den Kosten sitzen. Die Vermieter sind meistens aus rechtlicher Sicht mit allen Wassern gewaschen. Denn das Erhöhen der Mieten ist in den Großstädten längst zur Routine geworden.
Wen trifft es am schlimmsten?
Selbstverständlich schlagen sich die Folgen unterschiedlich stark im Leben eines Menschen nieder. Je nach Persönlichkeit, Lebenserfahrung, Zeit und Finanzressourcen kann die Verdrängung abgefedert werden. Aber besonders für die vulnerabelsten Menschen unserer Gesellschaft ist die Verdrängung aus der gewohnten Umgebung eine enorme Herausforderung. Es sind Einzelschicksale die kaum jemand bemerkt. Geschichten die kaum jemand hört.
Dabei ist es so wichtig. Den Initiatoren des Bevölkerungsaustausches (Immobilienmakler, Eigentümer, Investoren, Spekulanten und Politiker) fehlt es meiner Meinung nach an Einfühlungsvermögen. Sie haben nur ihren Profit vor Augen. Ihnen ist oft nicht bewusst was sie anrichten. Und wenn sie es wissen, dann ist es ihnen egal. Dann verdrängen sie die negativen Gedanken. Genauso wie sie die Menschen aus ihrer geliebten und angestammten Umgebung verdrängen. Diesen Fokus auf Profitmaximierung mag mancher als Zielstrebigkeit bezeichnen. Ich aber sehe es als Charakterschwäche.
Weitere detaillierte Informationen mit Schwerpunkt auf Berlin bekommst du übrigens im gentrification.blog vom Stadtsoziologen Andrej Holm.
Wenn du aus deinem Umfeld verdrängt wurdest oder Menschen kennst, denen es widerfahren ist, dann bist du herzlich eingeladen deine Geschichte hier als Kommentar zu schreiben oder sie mir an meine Email-Adresse schicken. Auf diese Weise können wir mehr Bewusstsein schaffen für ein Phänomen, das oft unbemerkt im Stillen abläuft.