“Die ‘one-size-fits-all’-Schlussfolgerung ist irreführend, denn die Zufriedenheit eines Jeden ist davon abhängig, ob die Umgebung zur Persönlichkeit passt.” — Dr. Markus Jokela.
Ein internationales Forscherteam hat erforscht, inwieweit sich Persönlichkeitseigenschaften in Stadtvierteln zusammenballen (clustern) und wie Nachbarschaften unsere Lebenszufriedenheit beeinflussen. Dafür wurden die Persönlichkeitseigenschaften von ca 56.000 Bewohnern Londons ausgewertet. Diese Daten wurden mit Hilfe des Fünf-Faktoren-Modells (Big Five) gewonnen.
Die 5 Persönlichkeitseigenschaften dieses Modells heißen: Extraversion, emotionale Stabilität (Emotional stability), Verträglichkeit (Agreeableness), Gewissenhaftigkeit (Conscientiousness) und Offenheit für Erfahrungen (Openness to experience).
Die folgende Grafik zeigt die Forschungsergebnisse für die 216 Postbezirke des Stadtgebiets Londons. (In weiß ist ist die Themse dargestellt, die durch London zur Nordsee fließt.)
Quelle: Jokela, M. et al. (2015)
Zur Erklärung: Für die ersten fünf Karten: Rote Gebiete zeigen hohe Werte von Zusammenballung der jeweiligen Persönlichkeitseigenschaft. Blaue Gebiete hingegen zeigen niedrige Werte von Zusammenballung.
Für die sechste Karte (Life satisfaction): Rote Gebiete zeigen hohe Werte von Lebenszufriedenheit. Blaue Gebiete hingegen zeigen niedrige Werte von Lebenszufriedenheit.
Offenheit für neue Erfahrungen
Mit der Persönlichkeitseigenschaft Offenheit für Erfahrungen (Openness to experience) wird vor allem Kultur, Intellekt und Kreativität und Toleranz assoziiert. Die obige Grafik zeigt, dass die Persönlichkeitseigenschaft Offenheit für neue Erfahrungen sich im Vergleich mit den anderen Persönlichkeitsigenschaften am stärksten zusammenballt. Das bedeutet: Offene Menschen sind vor allem in den Stadtteilen im Zentrum Londons zu finden. In den Vororten (Suburbs) der Millionenstadt gibt es weniger Menschen, die offen für neue Erfahrungen sind.
Extroversion
Auch extrovertierte Menschen finden sich in hoher Konzentration im Stadtzentrum wieder. Damit ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei der Eigenschaft Offenheit für neue Erfahrungen. Da extrovertierte Menschen sich gerne mit anderen Menschen zusammen gesellen haben sie kein Problem damit in einem hochverdichteten Stadtzentrum zu leben. Im Gegenteil. Dort können sie aufblühen, denn zahlreiche Bars, Cafes und weitere Orte sozialen Austausches bieten eine hervorragende Grundlage.
Emotionale Stabilität
Der Gegenpol von emotionaler Stabilität (Emotional stability) ist Neurotizismus und wird mit Ängstlichkeit und Nervosität assoziiert. Emotional stabile Menschen sind also weniger ängstlich oder nervös. Auch bei dieser Persönlichkeitseigenschaft zeigt sich eine recht starke Ballung im Stadtzentrum Londons. Aber auch einzelne Vororte zeigen erhöhte Werte.
Verträglichkeit
Verträgliche Menschen tendieren zu Freundlichkeit und Harmonie. Ballungen von Verträglichkeit können tendenziell in Vororten von London gefunden werden. Besonders wenig Verträglichkeit ist vor allem im Zentrum Londons zu finden.
Gewissenhaftigkeit
Gewissenhafte Menschen tendieren zu langfristigem Planen, Fleiß und Selbstdisziplin. Ballungen von Gewissenhaftigkeit können in London tendenziell in Vororten gefunden werden. Im Vergleich zu den anderen Persönlichkeitseigenschaften ist die Ballung der Gewissenhaftigkeit am wenigsten signifikant. Deswegen sind in der Karte kaum sehr intensiv rote oder blaue Gebiete zu erkennen.
Interessant ist außerdem, dass kaum Zusammenballung von Gewissenhaftigkeit in Gebieten zu finden ist, in denen die Offenheit für Erfahrungen hoch ist.
Die Big Five der Persönlichkeit
Lebenszufriedenheit
Die sechste Karte der Forschungsergebnisse zeigt die Lebenszufriedenheit in London. Besonders im Zentrum, im Südwesten und einigen Vororten ist die Zufriedenheit am höchsten.
Es ist nicht verwunderlich, dass Gebiete in denen die Menschen besonders zufrieden sind auch die Gebiete sind in denen die wohlhabendsten Londoner wohnen. Geld allein macht zwar nicht glücklich, aber es trägt nun mal in einem beträchtlichen Maße zur Lebenszufriedenheit bei. Welche Rolle spielt aber die Persönlichkeit?
Person-environment fit
Dass sich Persönlichkeitseigenschaften geographisch zusammenballen ist — wie in den Forschungsergebnissen zu sehen — offensichtlich. Daraus ergibt sich die Frage, ob Menschen gezielt in bestimmten Stadtviertel zu finden sind, weil diese Stadtviertel zu ihrer Persönlichkeit passen und somit bedeutend zu ihrer Lebenszufriedenheit beitragen. Wenn die Umgebung zu einer Person passt spricht man auch vom sogenannten “Person-environment fit”. “Fit” bedeutet soviel wie “Kompatibilität” oder “Match”. Im Idealfall wirkt sich diese Kompatibilität positiv auf die Lebenszufriedenheit aus.
In einem weiteren Schritt untersuchten die Wissenschaftler also den statistischen Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und soziodemografischen Faktoren wie Bevölkerungsstruktur, Einkommen, Kriminalität, physische Umgebung & Bebauung, etc im Bezug auf die Persönlichkeitseigenschaften und die verschiedenen Stadtviertel Londons.
Die Wissenschaftler fanden folgende Ergebnisse:
- Hohe Lebenszufriedenheit wird vor allem von Extroversion und emotionaler Stabilität bestimmt. Allerdings hatten die Eigenschaften der Stadtviertel keinen nennenswerten Einfluss darauf.
- Besonders viel Verträglichkeit konnte in Nachbarschaften mit niedriger Bevölkerungsdichte, niedrigen Immobilienpreisen, höherem Anteil alter Menschen & Familien mit Kindern und Gebieten mit einem hohen Anteil an privaten Gärten und vielen Grünflächen gefunden werden.
- Hohe Werte bei Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit sorgten für höhere Lebenszufriedenheit, selbst wenn die durchschnittliche Lebenszufriedenheit in dem Stadtviertel niedrig war. In benachteiligten Umgebungen scheinen diese beiden Persönlichkeitseigenschaften also sehr wichtig zu sein.
- Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit waren in zentrumsnahen Stadtteilen weniger anzutreffen, da diese von Extroversion und Offenheit geprägt sind und somit keine zufriedenstellende Grundlage für verträgliche, gewissenhafte Menschen besteht.
- Offenheit für Erfahrungen und Lebenszufriedenheit stehen zwar nicht in direktem Zusammenhang, aber die Eigenschaften eines Stadtteils können einen großen Einfluss darauf nehmen.
Besonders das letzte Ergebnis ist sehr wichtig. Shigehiro Oishi — einer der Forscher — erklärt, in was für Stadtteilen Menschen mit hoher Offenheit eine hohe Lebenszufriedenheit hatten:
Menschen mit einer hohen Offenheit für Erfahrungen waren mit ihrem Leben zufriedener, wenn sie in Nachbarschaften lebten, die von hoher Bevölkerungsdichte, jungen Menschen, kinderlosen Paaren und kultureller Diversität geprägt waren, als wenn sie in Nachbarschaften lebten, die von niedriger Bevölkerungsdichte, älteren Menschen, Paaren mit Kindern und kultureller Homogenität geprägt waren. — Shigehiro Oishi
Außerdem wird angenommen, dass offene Menschen gezielt in diese Stadtteile ziehen, weil sie dort glücklicher sind. Diese Erkenntnis verdeutlicht, was für eine große Auswirkung die Beschaffenheit eines Stadtteils auf die Lebenszufriedenheit und das Wohlbefinden eines Menschen haben kann. Innerhalb der person-environment-fit-Forschung zählt diese Erkenntnis als erste ihrer Art und wird als großer Fortschritt an der Schnittstelle zwischen Psychologie und Geographie gewertet (vgl. Oishi, 2015).
2016 wurde in einer weiteren Studie belegt, dass ein passender Wohnort nicht nur zu mehr Zufriedenheit beitragen kann, sondern auch das Selbstwertgefühl stärken kann.
Der Blick über den Tellerrand
Mit diesen Forschungsergebnissen wird noch deutlicher, wie wichtig es ist, sich bei der Suche nach seinem Wohnort an seiner Persönlichkeit zu orientieren. Soziale und finanzielle Aspekte sind selbstverständlich ebenfalls wichtig — vor allem in Zeiten, in denen die Mietpreise in den Städten immer unbezahlbarer werden und das Gespenst der Gentrifizierung sein Unwesen treibt.
In diesem Zusammenhang scheint es besonders fatal, dass gerade die jungen, kreativen, offenen Menschen — die letztendlich das urbane Lebensgefühl in den Städten verbreiten — Schwierigkeiten haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden und somit unter Umständen die Stadt/das Stadtviertel verlassen oder davon absehen in diese Stadt zu ziehen. Ein massiver Verlust für diese Städte! Aber andererseits eine große Chance für andere Städte!
Bei der Frage nach dem besten Ort zum Leben war es bisher in Mode, sich an objektiven Studien zu orientieren, die die Lebensqualität der Städte vergleichen. (wie zum Beispiel diese hier) So wird beispielsweise immer wieder Melbourne, in Australien als lebenswerteste Stadt der Welt gekürt. Anhand der oben gezeigten Forschungsergebnisse wird aber deutlich, dass diese Studien zwar informativ und interessant sind, aber letztlich nicht tiefgreifend klären können, wo für eine Person der beste Ort zum Leben ist.
Objektive Faktoren wie Infrastruktur, medizinische Versorgung, Sicherheit, Bildung, etc sind zwar wichtig, aber die subjektiven Präferenzen sind mindestens genauso wichtig — Vermutlich sogar deutlich wichtiger. In Zeiten in denen Big Data immer wichtiger wird, bleibt es zu hoffen, dass es bald auch in Deutschland flächendeckende Daten zu Persönlichkeitsverteilungen in den Städten gibt — oder verschläft Deutschland auch diese Entwicklung?
“[…] Finding the best place to live depends on the match between individual dispositions and neighborhood characteristics.” — Markus Jokela et al.
Übersetzung: “Den besten Ort zum Leben zu finden hängt von der Kompatibilität zwischen dem individuellen Naturell und den Eigenschaften der Nachbarschaft ab.”
Quellen:
Hogrefe (2012): Dorsch Lexikon der Psycholgie: Fünf-Faktoren-Modell. <https://portal.hogrefe.com/dorsch/fuenf-faktoren-modell/> (Zugriff: 03.05.2018)
Jokela, M. et al. (2015): Geographically varying associations between personality and life satisfaction in the London metropolitan area <https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4311843/> (Zugriff: 02.05.2018).
Oishi, S. (2015): Geography and personality: Why do different neighborhoods have different vibes? <https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4311835/> (Zugriff: 03.05.2018)