Kurt Tucholsky - Das Ideal

Kurt Tucholsky — Das Ideal

Heute mal zur Abwech­se­lung ein Gedicht: Kurt Tochol­skys “Das Ideal” — geschrieben vor fast 100 Jahren, aller­dings aktuell wie eh und je. Unter anderem handelt das Gedicht davon, wie schwer es ist alle Ideen und Wünsche unter einen Hut zu bekommen. Beson­ders den Bezug zur Wohn­um­ge­bung finde ich äußerst inter­es­sant. Das Gedicht verdeut­licht eben, dass es alles andere als leicht ist, den idealen Wohnort zu finden.

 

Das Ideal

ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Bade­zimmer ist die Zugspitze zu sehn
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.

Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:

Neun Zimmer, — nein, doch lieber zehn!
Ein Dach­garten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentral­hei­zung, Vakuum,
eine Diener­schaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve)
eine Biblio­thek und drumherum
Einsam­keit und Hummelgesumm.

Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad — alles lenkste
natür­lich selber ‑das wär ja gelacht!
Und zwischen­durch gehst du auf Hochwildjagd.

ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche — erstes Essen
alte Weine aus schönem Pokal
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine rich­tige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröh­liche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

ja, das möchste:

Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdi­sche Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten -
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein,
bald fehlt uns der Becher.

Etwas ist immer. Tröste dich

Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat -
das ist selten.

Theo­bald Tiger (Pseud­onym von Kurt Tucholsky)

Berliner Illus­trirte Zeitung, 31.07.1927, Nr. 31, S. 1256

 

 

 

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